photo book, self-published, 2008
Cariz [span.]– look, appearance, outlook, texture, complexion, twist
winner of PROFIFOTO + CEWE FOTOBUCH PRO AWARD
Cariz – ein schwer faßbares Wort, aus dem Seemännischen kommend, die genauere Bedeutung erhält es durch beigefügte Bezüge; an sich ist es umfassend (Lage, Aussehen, Anschein), wartet auf Definition durch einen Benutzer. Und somit ist es passend für dieses Buch mit Fotografien aus Kuba. Diese geben eine Atmosphäre wieder, eine Stimmung, aber nicht etwas, was man erwartet, wenn von Kuba die Rede ist. So sah es wohl auch die Fotografin, die sich von der Stimmung einfangen ließ. Sie fängt ein, was auf den ersten Blick banal erscheint, ein unvoreingenommener Blick auf Personen und Gegenstände. Aber gerade diese scheinbare Banalität provoziert Nachdenken, Nachfragen. Kargheit dominiert in den Bildern, wodurch jedoch das Wesentliche sichtbar gemacht wird, darauf konzentriert wird.
Liebevoll aufgenommene kleine Details aus Bildungseinrichtungen zeigen dem Betrachter, was die Leute dort – sowohl Lehrpersonal wie auch Schüler – für wichtig erachten, sei es ein Kanarienvogel oder ein Che-Guevara-Bild. Beim Betrachten der Bilder wartet man direkt darauf, daß die Schüler in den Schlafsaal mit seinen ordentlich in Reih und Glied aufgestellten Betten stürmen, hin zu dem Kuscheltier oder einem anderen persönlichen wichtigen Gegenstand auf dem Bett; daß sich die leeren Stühle im Beratungsraum oder im ruhigen Winkel füllen. Sportunterricht im Angesicht des Nationalheiligen José Martí … Man ahnt, wie viel bei aller Ressourcenknappheit gerade in diesen Sektor investiert wird, wobei der ideelle Gehalt wichtiger ist als eine optisch wirksamere "Modernität".
Und die Porträts – unspektakulär, in Alltagssituationen -, aber welche Würde, ja Stolz spricht aus ihnen, irgendwie ein "wir haben es geschafft, wir schaffen es". Hintergrund ist die vor 50 Jahren durch die USA gegen Kuba verhängte und im Verlaufe dieser Jahre immer wieder verschärfte Blockade sowie der Wegfall – praktisch über Nacht – des sozialistischen Lagers als wirtschaftliches und politisches Hinterland. Wer diese Bilder sieht, versteht mehr von Kuba, als ob er sich einen prachtvollen farbigen Bildband mit Standardklischees zu Gemüte führe.
Aus den Bildern spricht Unvoreingenommenheit, eine gewisse Distanziertheit und zugleich Sympathie. Der Betrachter bekommt ein Gespür dafür, warum so viele Leute – oftmals rein gefühlsmäßig – Solidarität mit Kuba empfinden und es oft nur aus dem einzigen Grund unterstützen, weil es ein Recht darauf hat, seinen eigenen Weg der kostenlosen Bildung und medizinischen Betreuung für alle sowie der Ausmerzung des Hungers als gesellschaftliches Phänomen zu gehen, ohne sich einer dieses Land gnadenlos bekämpfenden Übermacht zu beugen.
Gerhard Mertschenk, KarEN